7. Juni 2012

Thilo Sarrazin und der Weltökonom Helmut Schmidt


Das Buch Europa braucht den Euro nicht ist eines, das Fachleute rezensieren sollten. Ich als Nicht-Finanzwissenschaftlerin, die ich aber jahrelang mit solchen zusammengearbeitet habe, begnüge mich deshalb damit, hin&wieder einige markante Stellen zu dokumentieren - bin erst auf Seite 140. Nicht alle Nicht-Fachleute sehen das wie ich, sondern phantasieren munter darauf los, was Thilo Sarrazin in seinem Buch angeblich geäußert hat. Alan Posener macht keine Ausnahme, daß er kein Fachmann ist, merkt man sofort, daß er aber obendrein weniger über das Buch informieren als dem Thilo Sarrazin ans Bein pinkeln möchte, das sieht man schon an der Überschrift Sarrazin - ein Gefangener der Ressentiments, und er schreibt es ausdrücklich.

Vielleicht meint er, wenn er die Seitenzahlen angibt, schaut eh keiner nach. Nebenbei disqualifiziert sich die WELT, das Buch von einem Laien besprechen zu lassen, einem, von dem jeder weiß, daß er besser auf einen Knopf namens Bullshit haut, manchmal plaziert auf Torah, Bibel oder Koran.

"Dass Sarrazin nicht skandalisieren wollte, heißt aber nicht, dass das Buch keine skandalösen Passagen enthielte. Da ist etwa die Stelle (Seite 19), wo Sarrazin Helmut Schmidt als Gewährsmann für seine These anführt, 'das anhaltende Gefangensein in der Schuld der Nachkriegszeit' hindere die Deutschen daran, in Europa ihre Interessen wahrzunehmen."

Es steht so nicht dort, der Sinn des Hinweises von Thilo Sarrazin auf Helmut Schmidt ist entstellt. Damit nun nicht eine weitere Irrmeinung hinzukommt, zitiere ich, was Thilo Sarrazin auf Seite 19 geschrieben hat, man kann es auf der Website der DVA probelesen, dort auf den Seiten 20-21/40:

"Auch Helmut Schmidt unterstrich mit der Kraft seiner großen Autorität als Altbundeskanzler und Weltökonom diese Linie, als er am 4. Dezember 2011 in einer Rede vor dem SPD-Parteitag den Bogen schlug von der deutschen Schuld am Holocaust über das europäische Vermächtnis Robert Schumanns (sic!) und Konrad Adenauers bis zur gemeinsamen Währung und zur Notwendigkeit deutscher Mithaftung für die Schulden der Partner-Länder im Euroraum. Diese Rede brachte das Dilemma Deutschlands - nämlich das anhaltende Gefangensein in der Schuld der Nachkriegszeit - exemplarisch auf den Punkt. Helmut Schmidt zeigte die moralische Stärke, die Deutschland daraus gewonnen hat und noch gewinnt, dass es diese Schuld annimmt. Ungewollt zeigte er aber auch die Gefahr, die darin liegt, wenn das deutsche Schuldbewußtsein Entscheidungen prägt, die besser auf der Grundlage ökonomischer Vernunft und sorgfältiger Interessenabwägung getroffen würden. Helmut Schmidts Tragik ist: Auch da, wo er Unrecht hat, gibt ihm seine schöne klare Sprache mit ihren lebendigen Bildern eine überlegene Anziehungskraft.

Ich persönlich halte es nämlich - anders als Helmut Schmidt und viele Protagonisten des Euro dies tun - für besser, unterschiedliche Argumentationsebenen sauber zu trennen, und so gehe ich in diesem Buch auch vor:"

Was ist an dieser Bemerkung skandalös? Daß Thilo Sarrazin mit subtilen Sprachmitteln Helmut Schmidt in dessen Größenwahn: "Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche 'Krise des Euro' ist leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern", in die Schranken weist, daß er die Vermengung von politischer Einigung, von der Europa Jahrzehnte wenn nicht politische Lichtjahre entfernt ist, und Währungsunion Europas zurückweist, den Euro nicht sieht als "Rückversicherung gegen eine abermals denkbare machtpolitische Verführbarkeit der Deutschen"?

Welches "strategische Interesse der deutschen Nation" könnte es sein, die Mißwirtschaft der südlichen Euro-Länder, zu denen auch Frankreich zu rechnen ist, mit Milliarden Euro zu stützen, die von den deutschen Steuerzahlern aufzubringen sind? Liest jemand französische Zeitungen? Ich lese sie täglich, und was bereits unter der Regierung des Nicolas Sarkozy hart an der Grenze war, das entfaltet sich bei den Sozialisten des Staatspräsidenten François Hollande, der nach Umfragen am 10. und am 17. Juni mit Mehrheit auch die Herrschaft über die Nationalversammlung übernehmen wird: ein Wirtschaften aus dem Vollen, per Dekret, unter Ausschaltung der Nationalversammlung, Rückkehr zur Rente ab 60 für einen Teil der Beschäftigten, Erhalt der seit 1998 gesetzlich festgelegten 35-Stunden-Woche, Schaffung von 150 000 staatlichen Arbeitsplätzen für Jugendliche, große und kleine finanzielle Wahlgeschenke in Höhe von zig Milliarden Euro, die durch nichts im Haushalt gedeckt sind.

Frankreich ernährt eh schon doppelt so viele Funktionäre wie Deutschland, das zwanzig Millionen mehr Einwohner hat. In Frankreich gibt es Regierungen auf folgenden Ebenen: Kommunen, Departments, Regionen, Nation und Präfektur. Deutschland hat zwei Regierungsebenen weniger: Kommunen, Länder, Nation. Über die Präfekturen regiert das Innenministerium Frankreichs in die Departments hinein, wo es dies für angemessen hält, der Präfekt mit seinem parallelen Regierungsapparat ist Repräsentant des Zentralstaates. Die Struktur befindet sich auf dem Niveau der Regierung des Louis XIV.

Thilo Sarrazin geht im Text glimpflich um mit Frankreich, jedenfalls auf den ersten 140 Seiten. Er berichtet zwar den Tatsachen entsprechend, daß französische hohe Beamte wie Jean-Claude Trichet, der vom November 2003 bis zum Oktober 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank ist und davor außer zwei Jahren seines Lebens, von 1965 bis 1968 im staatlichen Forschungsdienst SEDES, nur in höchsten Regierungstellen verbracht hat, in erster Linie ihrem Staat verpflichtet sind, und nicht wie die Bundesbanker in dem Augenblick, in dem sie als Beamte in die BuBa eintreten, die Interessen dieser Institution und nicht Bayerns, Hessens oder Hamburgs vertreten, aber ansonsten muß man sich die Kritik an Frankreich vor allem aus den Schaubildern und Zahlenreihen zusammensuchen.

Was meint Alan Posener, wie lange Deutsche, deutsche Verantwortung und Schuld an WKI, WKII und der Vernichtung der europäischen Juden durchaus begreifend, sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik der südlichen Eurostaaten gefallen lassen? Gefährdet diese Mißwirtschaft nicht erst recht den Frieden in Europa? Dabei ist die nahezu unbeschränkte Immigration von Nichteuropäern in die sozialen Netzwerke Europas noch gar nicht thematisiert. Die Euro-Zone zu betrachten als eine Art Stelenfeld zur Wiedergutmachung deutscher Sünden, ist zwar ebenso verfehlt wie letzteres aber leider auch weitaus gefährlicher, und zwar für alle.

Die Interpretation der "Anleihe bei Helmut Schmidt" mögen die Leser aus dem obigen Zitat und der Parteitagsrede selbst heraussuchen. Was Alan Posener dazu schreibt, wirft bei mir die Frage auf, ob er ein anderes Buch und eine andere Schmidt-Rede gelesen hat als ich. Es geht Thilo Sarrazin nicht um "das alte Spiel zwischen Zentrum (Deutschland) und Peripherie", sondern um nicht kompatible Lebens- und Gesellschaftsentwürfe der in der EU durch den Euro verbundenen Nord- und Südstaaten, dokumentiert u.a. in ihren Haushaltsplänen. Mit diesem Unterschied werde ich in Südfrankreich täglich konfrontiert, die Feststellung muß nicht verbunden sein mit Wertung. Anders ist nicht immer besser.

Helmut Schmidt hat das Buch von Thilo Sarrazin nicht gelesen, es ist erst am 22. Mai 2012 erschienen, aber viele Informationen und Schaubilder sind aus der Zeit vor der Rede, vom 4. Dezember 2011. Unzählige Artikel des Ifo-Instituts befassen sich mit der Problematik. Haben diejenigen, die Helmut Schmidt die Unterlagen für seine Rede zusammengestellt haben, nichts gelesen über die angeblich nicht vorhandene Euro-Krise? Wo zeigt sich in der Rede "Schmidts weiter Horizont"? Von Ressentiment ist in dem Buch nichts, gar nichts zu lesen, bei Thilo Sarrazin "schnurrt" vielleicht zu Hause 'ne Katze im Katzen-Sprech, aber gewiß kein Ressentiment im Sarrazin-Sprech, auch keine Xenophobie, sondern der Autor belegt auf jeder Seite, wie richtig es ist, "unterschiedliche Argumentationsebenen sauber zu trennen". Gerade der Mangel einer solchen Trennung hat die deutsche Politik immer wieder auf Irrwege gebracht.

Kommt Alan Posener zum nächsten Zitat, auf Seite 389f., so scheint er von all dem Fachwissen, mit dem ihn Thilo Sarrazin konfrontiert hat, so müde, daß er falsch zitiert. "Auch Angela Merkel ist offenbar (!) Gefangene jenes deutschen Nachkriegs-Denkstils, wonach nur ein letztendliches Aufgehen Deutschlands in Europa Deutschland vor sich selbst und die Welt vor Deutschland retten könne." Linke nehmen es offenbar (!) nicht genau mit den Tatsachen, ein kleines Wort verändert den Sinn, aus einer Vermutung des Thilo Sarrazin wird bei Alan Posener eine Tatsachenbehauptung.

Bei der Erwähnung des Ernst Nolte ist Alan Posener endlich bei seiner Lieblingsbeschäftigung angelangt, auf einen dicken roten Knopf zu drücken, dabei sein Ponem dicht vor die Kamera zu halten und Bullshit zu rufen. Thilo Sarrazin erinnert an Ernst Nolte, ihn verbindet etwas mit Günter Grass - vielleicht, großzügig betrachtet, die ähnlichen Brillen? Die "letzte Tinte" kann's wohl nicht sein. Zum Glück verlinkt er das Interview von Olaf Gersemann und Christine Richter mit dem Autor, so ist die Lektüre seiner Rezension doch noch ergiebig.

Danke dafür!